Dülmen. Der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Dülmen, der in diesem Jahr auf eine 100-jährige Geschichte zurückblickt, ist seit 1991 Träger des einzigen Frauen- und Kinderschutzhauses im Kreis Coesfeld. Bis zu acht Frauen mit oder ohne Kinder, unabhängig von ihrer Weltanschauung, Nationalität, Religionszugehörigkeit und regionaler Herkunft, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, können hier Zuflucht finden, zur Ruhe kommen und an diesem anonymen Ort mit dem Fachkräfte-Team des Hauses ihre Gewalterfahrungen verarbeiten und multiprofessionell in allen Lebenslagen beraten werden, um neue Perspektiven und Handlungsstrategien zu entwickeln.
Wie zum Beispiel die heute 34-jährige Mutter von vier Kindern aus dem Kreis Lippe, die im Frühjahr 2020 ins Frauen- und Kinderschutzhaus in Dülmen aufgenommen wurde. Lena (Name geändert), gelernte Verwaltungsangestellte, war eine engagierte und lebenslustige Frau. Bis sie eines Tages nach langen Ehejahren zum ersten Mal Gewalt seitens ihres Ehemannes aus Eifersucht erleben musste. Als Lena ihren Führerschein machte, hatte ihr Ehemann den Verdacht, dass die Mutter seiner vier Kinder ein Verhältnis mit ihrem Fahrlehrer hatte. Ihr Ehemann zündete den Fahrschulwagen an und verprügelte seine Frau mehrmals mit Schlägen auf den Kopf.
Wenige Zeit später überfiel er seine Frau und übergoss sie mit Benzin und zündete sie an. Lena kam mit schwerwiegenden Verbrennungen im Gesicht, am Kopf und Arm in eine Spezialklinik.
Durch die schnelle medizinische Behandlung konnten Spätfolgen minimiert werden. Neben dem erlittenen Trauma muss sie lebenslang mit den Narben am Körper leben.
Im Landgerichtsprozess legte ihr Ehemann ein umfassendes Geständnis ab und sagte, er habe seine Frau durch den Brandanschlag hässlich für andere Männer machen wollen.
Das zuständige Landgericht Detmold verurteilte den Mann im Herbst vergangenen Jahres wegen versuchten Mordes zu vier Jahren Haft.
Rund ein halbes Jahr lebte Lena mit ihren vier Kindern im Frauen- und Kinderschutzhaus in Dülmen. Aus Sicherheitsgründen und zum Schutz von Leib und Leben wurde Lena aus einem anderen Frauenhaus nach Dülmen weitervermittelt. Mit Hilfe der psychosozialen Beratung und der parteilichen Unterstützung der professionellen Mitarbeiterinnen im Frauen- und Kinderschutzhaus schaffte sie es, gemeinsam mit ihren vier Kindern ein selbstständiges und autonomes Leben in Ostwestfalen zu starten.
„Die ersten zwei bis drei Monate in Dülmen brauchte ich zu verarbeiten und zu begreifen, was ich erlebt habe. Ich war in Trance“, berichtet Lena bei einem auf Lautsprecher gestellten Telefonat mit Yvonne Schulz-Sicking. „Die Zeit in Dülmen hat mich stark gemacht, das Trauma hinter mich zu bringen“, so Lena in dem Telefonat. „Auch die Gespräche im Frauenhaus, die manchmal über eine Stunde dauerten, haben mir sehr geholfen, meinen Weg zu finden, falsche Gedanken zu erkennen und Selbstvertrauen zu gewinnen. Das war ein Ansporn: Du schaffst das.“
Yvonne Schulz-Sicking, die seit 13 Jahren das Frauen- und Kinderschutzhaus leitet, freut sich, dass Lena die traumatischen Erlebnisse in weiten Teilen so gut verarbeitet hat: „Ich habe großen Respekt vor ihr, dass sie sich den Geschehnissen gestellt hat und die Verantwortung für ihr Leben wieder selbst übernommen hat“, sagt sie, als das Telefonat beendet ist. Gleichwohl erlebt sie jedoch auch noch Monate später in Telefonaten, dass bei Lena Ängste hochkommen: „Lena hat trotz ihrer positiven psychischen Entwicklung permanent panische Angst, dass ihr Mann, wenn er aus der Haft entlassen wird, sie ausfindig macht und sie wieder versucht zu töten.“
Auch ihre Kinder haben unter der Gewalttätigkeit ihres Vater schwer gelitten. In der Anfangszeit im Frauen- und Kinderschutzhaus hatten sie sehr große Anpassungsschwierigkeiten. Im Umgang mit ihrer Mutter und allen anderen Personen zeigten sie mannigfaltige Verhaltensauffälligkeiten. Sie konnten erst kaum Vertrauen fassen und reagierten auf Regeln des respektvollen und gewaltfreien Zusammenlebens im Frauenhaus mit Aggressionen und Wut.
Die Erzieherinnen konnten mithilfe einer wertschätzenden, verständnisvollen Grundhaltung und dem Wissen um Folgen von Traumatisierung den Kindern von Lena Stabilität vermitteln und sie bei der Verarbeitung der vorangegangen Erlebnisse unterstützen.
Grundsätzlich gilt den Kindern in dem Schutzhaus die gleiche Aufmerksamkeit wie den Frauen, die dort leben. Denn nicht selten haben die Kinder Entwicklungsstörungen im körperlichen und seelischen Bereich, haben sprachliche Auffälligkeiten, sind oft krank und leiden unter Bettnässen, Schulschwierigkeiten, Schuldgefühlen und entwickeln Aggressionen gegen sich selbst – oder haben andere Verhaltensauffälligkeiten.
Emanzipation und Distanzierung von der gewalttätigen Person, aber auch von oft kulturell bedingten Wertkonzepten sind unter anderem Bestandteil der psychosozialen Hilfe, die beispielsweise in Form von Einzel- und Gruppengesprächen im Schutzhaus erfolgt. Im Rahmen der ressourcenorientierten Unterstüzung werden Fertig- und Fähigkeiten der Frauen aktiviert und gefördert.
Zum Team der 49-jährigen Mutter eines erwachsenen Sohnes gehören Carina Dietrich (Sozialarbeiterin B.A.), Angela Kallhoff (Erzieherin und Psychotraumatologische Fachberaterin), Annegret Pepper (Erzieherin), Petra Bätz (Pädagogische Mitarbeiterin) sowie Luisa Horstick (Verwaltungs- und Hauswirtschaftsangestellte).
Den Rahmen für die Arbeit bildet ein Anfang der 1990er Jahre eigens als Frauen- und Kinderschutzschutzhaus errichtetes Gebäude, dessen Adresse aus Gründen des Klientinnenschutzes anonym ist. „Mit dem Gebäude haben wir großes Glück – da hat die katholische Kirche damals sehr zuvorkommend geplant“, so Frauenhausleiterin Yvonne Schulz-Sicking.
Darüber hinaus bringen sich aktuell fünf ehrenamtliche Kräfte in die Arbeit im Frauen- und Kinderschutzhaus mit ein und stellen die Rund-um-die-Uhr-Rufbereitschaft sicher. „Hier würden wir uns freuen, wenn sich noch weitere Personen einbringen würden“, so Yvonne Schulz-Sicking.
Weitere Informationen, das Hauskonzept und Fotos auf www.frauenhaus-duelmen.org und unter Telefon (02594) 86854. Diese Nummer ist als Notfallnummer 24 Stunden am Tag erreichbar.