Dülmen. „Zuckerbäcker Sickenberg, Dülmen“. So ist deutlich auf dem Schild unten auf dem Prospekt der Drehorgel zu lesen. Tausende Menschen haben es gesehen im Laufe der Jahrzehnte, in denen Günther und Agnes Sickenberg mit der Drehorgel unterwegs waren, um damit bei den verschiedensten Veranstaltungen in ganz Deutschland und auch im benachbarten Ausland aufzutreten und sich unters Volk zu mischen. Musikalische Botschafter von Dülmen und allgemein einer Tradition, die etwas ganz eigenes hat. „Man kann Menschen damit viel Freude bereiten – und wir haben es immer sehr sehr gerne gemacht“, sagt Günther Sickenberg.
Seine Frau und er waren mit der Drehorgel oft Attraktion bei Volksfesten. Dadurch, dass sie im Club Deutscher Orgelfreunde e. V. sind, kamen viele Einladungen. „Und wir sind stets ausschließlich auf Einladung irgendwo hin gefahren“, so Günther Sickenberg. Sei es zur Landesgartenschau in Trier 2004, sei es zum Drehorgeltreff mit 20 Drehorgeln in Soest – oder sei es zur Närrischen Hitparade im Fernsehen. Oder zu Zirkusveranstaltungen, etwa beim Weihnachtszirkus in Hiltrup. Aber auch in Kirchen sind sie aufgetreten. Und auch in Dülmen waren die beiden gelegentlich unterwegs und hatten im Rahmen des Kartoffelmarkts auch Drehorgel-Kollegen mit dabei. Oder sie spielten beispielsweise beim Adventsfest der Privatschulen Schloss Buldern. „Es waren wunderbare Erlebnisse – vor allem die leuchtenden Kinderaugen sind etwas Herrliches“, sagt Günther Sickenberg.
Zuletzt war er zusammen mit Enkel Till aus Münster mit der Drehorgel im Juli beim Sommerfest vom Maria-Ludwig-Stift – dem Seniorenheim der Clemensschwestern in Dülmen. Auch da vergab Günther Sickenberg Drehorgel-Diplome, lud dazu ein, die Kurbel zu drehen – „schön gleichmäßig!“ –, stimmte mit den Bewohnern und Gästen Volkslieder und bekannte Stimmungslieder an und hatte auch Liederzettel mit Texten dabei. Wie ein Conferencier ermunterte der 86-Jährige die Bewohner und Gäste des Hauses mitzusingen und ließ zusammen mit seinem Enkel eine kleine Affenpuppe in Clownskostüm auf einem gespannten Seil hin- und herflitzen.
Was in früheren Zeiten, bei anderen Drehorgelspielern, ein echtes Tier war – der Affe auf der Drehorgel –, ist bei Günther Sickenberg eine Puppe. Elektrisch betrieben bewegt sich die Puppe, die in einen Zettel hochhält. Darauf zu lesen: „Ein Fröhliches Herz ist die beste Medizin!“ „Die Kinder hatten immer Riesenspaß an dem Affen“, so Günther Sickenberg. „Er ist einfach ein Hingucker.“
Ein „Hinhörer“ hingegen ist die Orgel. Ein Zentner schwer, zusätzlich der fahrbare Untersatz, ebenfalls einen Zentner schwer. Einiges an Gewicht, was zu bewegen ist. „Deswegen machen wir auch keine Auftritte mehr mit unserer Drehorgel“, sagt Günther Sickenberg. Vor diesem Hintergrund würde er die Orgel gern in pflegliche Hände geben. Anzuschauen und anzuhören ist das Instrument nach vorheriger telefonischer Vereinbarung unter (02594) 3679.
„Original Raffin Orgel – Konzert-Typ R31/84“ steht auf dem „Fahrzeugschein“ der Orgel, Baujahr 1984. Will sagen, dass die Orgel 31 Tonstufen und 84 Pfeifen hat. Die Melodie-Abteilung hat vier Register mit jeweils 16 Pfeifen, Begleitung und Bässe jeweils zehn Pfeifen.
Angetrieben wird die Drehorgel durch Drehen der Kurbel, die einen Blasebalg bewegt, der die Luft liefert für die Pfeifen. Welche Pfeife mit Luft versorgt wird, bestimmt jeweils ein Lochband, das im Tempo der Kurbel über die Lufteinheit gezogen wird. „50 Bänder haben wir – darunter auch welche mit ziemlich aktuellen Stücken wie ,Der Holzmichl‘ oder auch ,Die Hände zum Himmel‘. Aber natürlich auch Märsche, Rock‘n‘Roll, Rock oder ,Alte Kameraden‘“, erklärt Günther Sickenberg.
Dass er und seine Frau „auf die Drehorgel“ gekommen waren, wenn man so will, liegt am einstigen Fremdenverkehrsamt der Stadt Dülmen. „Hermann Krusel und Heinrich Horstrup hatten damals die Idee dazu, dass Gruppen bei uns in der Konditorei ein Back-Event machen könnten“, berichtet Agnes Sickenberg. Dieses Angebot wurde auch auf Tourismus-Messen in Essen bekannt gemacht, auf denen Günther Sickenberg nebst Drehorgel gelegentlich am Dülmen-Stand vertreten war – wie die Werkstätten Karthaus und die Sauna Insel.
„Dank der Werbung hatten wir viele Gruppen, die allesamt mit Schürzen von der Karthaus ausgerüstet wurden, bei dreistündigen Back-Events bei uns in der Konditorei. Während der Hefeteig gehen musste, war häufig eine Pause. Damit unseren Gästen bei dieser Kaffeepause nicht langweilig wurde, hatten wir eine Studentin bei den Veranstaltungen, die mit ihrem Akkordeon für Stimmung sorgte – die Leute sangen dann gerne und hatten jede Menge Spaß. Als die Studentin dann irgendwann keine Zeit mehr hatte dafür, kam uns der Gedanke: Wir sorgen mit einer Drehorgel selber für Stimmung und für Gesangsmusik“, schildert Günther Sickenberg.
Gesagt, getan. Fortan kümmerte sich Zuckerbäcker Sickenberg höchstselbst um Stimmung in der Backstube – sehr zur Freude der Gäste. „Wir haben über die Jahre viele Briefe bekommen, in denen stand, dass es den Leuten super gefallen hat. Manche dichteten sogar selber individuelle Verse zum Dank“, blickt Günther Sickenberg zurück und greift nach einem von mehreren Aktenordnern, in denen manch ein Brief abgeheftet ist. Von Kegelclubs, Stammtischen, von Rechtsanwalts- und Notarkanzleien, von Firmen, vom Bildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB oder auch vom Turnverein Essen-Ost oder vom Volleyballclub Rheydt – und und und. „Es war immer schön, auch im Nachhinein zu sehen, wie viel Freude die Leute hatten und wie nachhaltig ihre Eindrücke hier in Dülmen waren“, so Günther Sickenberg.
Der 86-Jährige steht in einer Familientradition, in der Altwerden und das Konditorenhandwerk üblich ist. „Schon mein Großvater, der 102 Jahre alt geworden ist, war Konditor. Und auch mein Vater, der 93 Jahre alt wurde, hatte diesen Beruf. Und meine Tante wurde 104 Jahre alt“, zählt Günther Sickenberg auf.
Er selber machte auch eine Ausbildung zum Konditor, ging mit 17 Jahren für zwei Jahre in die Schweiz und arbeitete anschließend zwei Jahre in Wien. „Ich habe da viel gelernt, was ich später auch in Dülmen genutzt habe“, so Günther Sickenberg. Unter anderem Einfallsreichtum. So entwickelte er den Tibertaler mit Pferden drauf und ließ auch eine Gußform für Schokolade mit der Skulptur der Wäscherin anfertigen. „Inzwischen hat die Confiserie Bittersüß die Formen“, so Günther Sickenberg.
Nach seiner Zeit in Wien kam Sickenberg nach Essen. Bei seiner Arbeitsstelle dort trat dann ein Materiallieferant auf Günther Sickenberg zu. „,Bei der Bäckerei Schmitz in Dülmen wird noch ein Konditor gesucht‘, hieß es“, so Günther Sickenberg, der daraufhin nach Dülmen wechselte – und dort in Agnes Hovenjürgen seine spätere Frau kennenlernte.
Inzwischen hält Günther Sickenberg den Diamantenen Meisterbrief in der Hand und blickt zusammen mit seiner Frau auf ein erfülltes Leben – mit viel Drehorgelmusik. Denn auch sie hat eine Drehorgel – die allerdings nicht so groß ist wie die von ihm. Dafür ist die kleinere Drehorgel aber auch einfacher zu bugsieren.