Von Reimund Menninghaus
Dülmen. Wie sehr ihm seine Heimatstadt am Herzen liegt, das hat Rudi Kissenkötter schon in vielfältiger Weise gezeigt. Vor einigen Jahren startete er dann ein Projekt, das ihm schon länger vor Augen schwebte: die Gestaltung eines historischen Holzschranks mit ganz besonderen Motiven. Bis auf wenige Teile hat der 86-Jährige seinen Dülmen-Schrank, den er in seinem Wohnzimmer stehen hat, inzwischen fertiggestellt.
„Ich habe meine Vorstellungen, wie der Schrank im endgültigen Zustand gestaltet sein soll, nach und nach im Laufe der Zeit entwickelt. Und wenn eine Idee in mir entsprechend gereift war, habe ich sie dann umgesetzt“, schildert Rudi Kissenkötter, der zeit seines Lebens am Dülmener Westring wohnt und Dülmens Entwicklung stets ultranah erlebt hat.
Das äußere Erscheinungsbild – es ist geprägt durch die Dülmener Stadtfarben Blau und Gelb – und Gelb häufig als Blattgold. Auf die Türfront sind Frauen gemalt, die die vier Jahreszeiten repräsentieren. Diese Darstellungen werden an den Schrank-Außenseiten ergänzt durch zwölf kleinere gemalte Bilder, auf denen zumeist Kinder bei Tätigkeiten und mit Dingen zu sehen sind, die für den jeweiligen Monat typisch sind.
Motivik der Monatsbilder stammt aus einem Kalender
„In den 1970er Jahren habe ich mal in der Schweiz an einem Lehrgang für Bauernmalerei teilgenommen“, schildert Rudi Kissenkötter, der in seiner berufstätigen Zeit einen Malerbetrieb mit bis zu drei Gesellen und einen Auszubildenden hatte. „Als ich dann in einem Kalender mal ganz kleine Monatsmotive gesehen habe, habe ich sie mir vergrößert und auf gerahmte Hölzer gemalt, die ich dann an den Schrankwänden angebracht habe“, schildert Rudi Kissenkötter. Die Bereiche zwischen den gerahmten Monatsdarstellungen hat er mit Ranken bemalt – mal größere, mal kleinere (siehe Titelbild).
Ältestes Gebet Dülmens auf der Schrankrückseite
Auf der Rückwand des Schranks ist auf der blau-schwarz-marmorierten Grundfarbe Schrift in 24-Karat-Blattgold das prägende Element. „Der Text gibt das älteste Gebet von Dülmen wieder. Es steht an der Kreuzkapelle an der Lüdinghauser Straße“, erklärt Rudi Kissenkötter. Es lautet: „Dulman / halt dich an Jesum Christ / Sein Creutz / dein Schild un Waffen ist / Acht dich Christo zuständig / vor allen Stetten fürnemblich / Darum lieb ihn un ehr ihn mehr / als alle Stett hie rings um her“. Wer das Gebet verfasst hat, ist darunter zu lesen: Dechant Joh. Drachter. Und auch die Jahreszahl: 1652.
Darstellungen der vier Türme sind reliefartig
Unter dem Dülmen-Gebet sind die ursprünglichen vier Türme der Dülmener Stadtbefestigung abgebildet: das Lüdinghauser Tor, wie es sich aktuell darstellt, der Lorenkenturm in der Viktorstraße, der Nonnenturm am Nordring und der im Zweiten Weltkrieg zerstörte und somit nicht mehr existente Tiberturm. Diese Turmdarstellungen, auf denen eingesprengte Goldfarbe neben Blau die Konturen hervorhebt, sind reliefartig und wirken dadurch dreidimensional, erhalten Tiefe. Unter den vier Türmen schließlich aus dem Jahr 2017 das Signet von Rudi Kissenkötter als derjenige, der den Schrank gestaltet und die Darstellungen gemalt hat.
Woher aber stammt der Schrank überhaupt? „Er ist ein Geschenk – ganz zufällig“, erinnert sich Rudi Kissenkötter: „In den 1970er Jahren setzte ein Geselle von mir in der Villa Ostrop an der Ecke Coesfelder Straße/Königswall in einem Dachfenster eine neue Scheibe ein. Frau Kleimann bat bei der Gelegenheit darum, dass dieser Schrank von oben mit hinuntergenommen und entsorgt wird. Ich sah den Schrank und stellte fest, dass er weder Schrauben noch Eisennägel hat und dementsprechend alt sein dürfte. Ich fragte, ob ich den Schrank auch behalten könne – und ja, ich durfte.“
Unter Farbschichten tauchte das Wort „Postillon“ auf
Jahrelang lagerte der aus Nadelholz gefertigte Schrank – „er war braun gestrichen und nicht gerade hübsch“ – trocken. „Als einer unserer Gesellen dann die verschiedenen Schichten Farbe vom Schrank abbeizte, kam hier oben auf der Tür das Wort ,Postillon‘ zum Vorschein“, so Rudi Kissenkötter. „Das passte: Der Schrank kam aus dem Haus Ostrop – und Bernhard Ostrop war nicht nur Inhaber des alten Posthauses am Königsplatz und Gastronom, sondern auch der erste ,Natz von Dülmen‘ – der ,Original-Natz‘. Dementsprechend war der Schrank bei Bernhard Ostrop im Einsatz“, so Rudi Kissenkötter, der den Begriff „Postillon“ auf der Schranktür in Blattgold nachschrieb und seitlich mit Posthörnern flankierte.
Auf der Rückwand des Schranks hat Rudi Kissenkötter innen eine alte Ansicht des früheren Posthauses mit blauer Farbe auf gelb meliertem Hintergrund gemalt – eine Ansicht von etwa 1900, die es seit dem Zweiten Weltkrieg mit all seinen Zerstörungen nicht mehr gibt. „Bernhard Ostrop / 1788 – 1850 / 1. Natz von Dülmen“ ist darüber zu lesen.
Auf der Türinnenseite zieht eine Ikone des Erzengels Gabriel mit großem Blattgoldgrund die Blicke auf sich. „Gabriel ist der Schutzpatron der Post“, sagt Rudi Kissenkötter. „Mit Wilhelm Walgenbach, der bei der Post in hoher leitender Stellung war, habe ich mich darüber unterhalten. Im Ikonenmuseum in Recklinghausen habe ich dann eine Ikone mit einer Darstellung des Erzengels gesehen, die ich hier nun wiedergegeben habe“, so Rudi Kissenkötter.
Aufzählung bekannter Gäste des früheren Posthauses
Über der Ikone sind zwei Posthörner aufgemalt, und unter der Ikone sind Jahreszahlen zu lesen, zu denen bekannte Persönlichkeiten in der Dülmener Poststation zu Gast waren: Schwedenkönig Gustav III. (1780), der Preußen-Minister Ferdinand von Fürstenberg (1780), Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1792), Frankreichs Kaiser Napoleon (1812), der Dichter und Anna-Katharina-Emmerick-Kenner Clemens Brentano (1818), die Dichterin und Freundin von Clemens Brentano Luise Hensel (1819), König Wilhelm von Preußen (1821) und der Dichter Heinrich Heine (1822).
Eigener Bereich Stadtkapelle Dülmen
Ein ganz eigener Bereich ist unter der Darstellung des alten Posthauses zu sehen – ein Bereich, der sich der Stadtkapelle Dülmen widmet. Unter dem Dülmener Wappen mit dem charakteristischen Kleeblattkreuz sind das Signet der Stadtkapelle, die Jahreszahl 1872, ein Violin-Notenschlüssel und ein Bass-Notenschlüssel zu sehen. Und neben elektrisch beleuchteten Kerzen steht Zinngeschirr, ergänzt um Instrumenten-Miniaturen aus Zinn wie beispielsweise ein Flügel, ein Akkordeon, eine Geige, eine Harfe, ein Waldhorn, ein Jagdhorn, eine Tuba, eine Trompete und ein Saxophon.
„Die Stadtkapelle gehört zu meiner Familie – ist meine Familie – und hat wie die Musik überhaupt eine große Rolle für mich gespielt“, so Rudi Kissenkötter, der für die Ausrüstung seines Dülmen-Schranks Hilfe von Tischler und Stadtkapellen-Mitmusiker Norbert Sietmann bekommen hat. Er hat ein Schubladen-Element in den Schrank eingebaut, auf das Rudi Kissenkötter oben das Dülmen-Wappen aufgemalt hat.
Ein Lob auf Dülmen und die Dülmener Bevölkerung
Das Schubladen-Element hat nach vorne eine Blende, die heruntergeklappt werden kann. Diese Blende zeigt im zugeklappten Zustand das Signet der Stadtkapelle mit den beiden Notenschlüsseln. Wenn man dann die Blende aufklappt, kommt auf der Rückseite der Blende ein plattdeutsches Gedicht zum Vorschein, das Dülmen und Dülmens Bewohnerschaft wortspielerisch lobt: „Dulman / Dull Mann, dull Frau, dull Kind, / als dull, / wat man in Dulman find!“
Mit dem Herunterklappen der Blende kommen auch die Schubladen des Schrankeinbaus in den Blick. „Dülm bliff Dülm“ ist auf der Front der oberen Schublade plattdeutsch zu lesen, darunter „un is usse Hiärt!“
Gedicht von Dülmens Untergang im Bombenkrieg
Zwischen den Schubladen befinden sich zwei herausziehbare Tafeln.
Auf die obere hat Rudi Kissenkötter ein plattdeutsches Gedicht geschrieben, das Änne Riddermann geborene Püttmann (1896-1956) mit Blick auf die Bombardierung Dülmens am 21. und 22. März 1945 verfasst hat: „Von Dülm‘s Unnegank // Nu jäöhrt‘s sick wier, – wenn Mätenwind / weiht uörwe Stadt un Land. / Met Flammenschrift de Dage sind / deip in de Seel us brannt. / / Grad kam de Lenz met sachtem Tratt / schön es de junge Mai. / Dao wast, wao usse aolle Stadt / den letzten Söchzer dei. // Dann lagg se dao – dat‘t Gott erbarm – / dö findes grimme Wut. / Us set‘t vö Leed un bitterm Harm, / dat kranke Hiärt baoll ut. // Und in de Arme haoll se week / es bloß `ne Moder kann. / De dauden Kinne ach so bleek, / de met iähr himmelan.
Zertrümmerte Viktorkirche soll noch dargestellt werden
Die zweite herausziehbare Tafel ist noch nicht gestaltet. Auch sie soll sich der fast vollständigen Zerstörung von Dülmens Bebauung im Zweiten Weltkrieg widmen: „Hier werde ich die Überreste der durch Bomben zertrümmerten Viktorkirche darstellen“, so Rudi Kissenkötter, „und daneben werde ich die Tage der Bombardierungen noch einmal aufzählen.“