Dülmen. Ab und an kommt es vor, dass sich aus einer Idee ein Hobby entwickelt, und aus einem Hobby eine Leidenschaft. Hans-Günter Werner, kurz HG, hatte so eine Idee: Weil er ohnehin fast täglich gut erholt in den frühen Morgenstunden erwachte, fasste er eines Tages den Entschluss, raus an die frische Luft zu gehen. Noch ahnungslos, was ihn erwartet, startete er seine Wanderung, genoss die kühle Nachtluft und hing seinen Gedanken nach. Während er so seines Weges ging, brachen langsam die ersten Sonnenstrahlen durch die Dunkelheit, und der Zauber des Morgens nahm HG in seinen Bann. Er zückte sein Smartphone, aktivierte die Kamerafunktion, richtete es auf den Sonnenaufgang, drückte den Auslöser und traute seinen Augen nicht: Dieses Bild war großartig! Auf das erste Bild folgten weitere, auf die erste Wanderung täglich neue. Seitdem hat HG keinen Sonnenaufgang verpasst …
Seit der ersten frühen Laufrunde sind fast drei Jahre vergangen. HG hat mittlerweile nicht nur eine riesige, (meist) digitale Fotosammlung angesammelt, das viele Laufen zahlt sich auch gesundheitlich aus, wie der 65-Jährige stolz berichtet: „Ich fühle mich fit wie noch nie. 700 Kilometer im Monat sind für mich mittlerweile guter Durchschnitt!“ Zwischen 4 und 5 Uhr verlässt er täglich das Bett, entscheidet dann spontan, wo ihn seine Erkundungstouren hinführen sollen.
Ob es ihm manchmal schwer fällt, dem Lockruf des Kopfkissens zu widerstehen? „Überhaupt nicht! Wenn ich aufwache, freue ich mich, dass es nun wieder in die Wälder geht! Ich brauche nicht viel Schlaf – und falls mich doch einmal die Müdigkeit überkommt, mache ich ein Mittagsschläfchen.“
Möglich ist sein frühaktiver Lebensstil vor allem aus zwei Gründen: „Grund eins ist, dass ich durch meinen Job als Wirt des DJK-Clubhauses unter normalen Umständen bereits sehr flexibel arbeiten kann – durch die Pandemie-Situation habe ich sogar noch mehr ungewollte Freizeit. Grund zwei – und der ist viel wichtiger – ist, dass meine Frau Iris meine ,Bettflucht‘ nicht nur gutheißt, sondern unterstützt. Sie begleitet mich sogar ab und an.“
„Hans-Günter hat ein super Auge“
So musste sich seine Frau Iris Feldhaus zwar erst an HGs Wanderlust gewöhnen, doch das dauerte nicht lange, wie sie schildert: „Es gab so viele Punkte, die mir gezeigt haben, dass Hans-Günter in diesen Spaziergängen aufgeht. Er wurde immer fitter, hatte gute Laune, berichtete mir von seinen Touren – und begeisterte mich mit seinen Fotos!“ An die erste Tour, bei der sie ihren Mann begleitete, erinnert sie sich noch gut – insbesondere, als sie die ersten Schnappschüsse live miterlebte: „Wir liefen gemeinsam während des Sonnenaufgangs über einen Feldweg, und plötzlich blieb HG stehen. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhat – ich hatte auch nichts Außergewöhnliches gesehen. Doch er zog sein Handy aus der Tasche, hielt es auf einen für mich unscheinbaren Baum, drückte ab und hielt mir dann das Bild vor die Nase. Die Sonnenstrahlen brachen durch die Äste, das Farbspiel war einzigartig. Es war unglaublich – da habe ich dann erst richtig verstanden, dass mehr zu diesen Fotos gehört, als einfach draufzuhalten. Für mich steht fest: Hans-Günter hat ein super Auge für außergewöhnliche Blickwinkel.“
Aus seinem Hobby wurde Leidenschaft
Zur wirklichen Leidenschaft wurde das Hobby, als HG damit startete, seine liebsten Aufnahmen bei Facebook und Instagram zu teilen. Zuerst auf seiner privaten Seite, dann in öffentlichen Gruppen. „Der Zuspruch war gewaltig“, erinnert sich der Früh-am-Morgen-Fotograf, „immer wieder schrieben mich Leute an, die meine Bilder toll finden oder die wissen wollten, wo ich dort war. Manche wollten mir gar nicht glauben, dass es solche schönen Ecken in Dülmen gibt, die sie nicht kennen …“ Schließlich gründete er sogar eine eigene Seite. Erst unter dem Namen „Dülmen am frühen Morgen“, dann – weil er seinen Laufradius längst auf die umliegenden Orte und Bauerschaften ausgeweitet hatte – „HG – am frühen Morgen“.
Auf der Seite kann er mitverfolgen, woher die Menschen kommen, die seine Bilder (nun auch ab und an mit einer Spiegelreflexkamera geschossen) kommentieren und mit „Gefällt mir“ kennzeichnen. So habe er bereits ab und an erstaunt seine Augen reiben müssen, wie er schmunzelnd gesteht: „Ich habe dort ,Follower‘, wie es in sozialen Netzwerken heißt, die aus allen Teilen der Welt kommen – die aber, wie ich durch Erfragen in Erfahrung bringen konnte, alle einen Bezug zu Dülmen haben.“ Zu den entferntesten „Fans“ seiner Seite zählen ein Mann in Singapur (mit Wurzeln in Haltern am See), eine Gruppe von Amerikanern (mit Vergangenheit in Dülmen) und eine Gruppe junger Jordanier. „Der Großteil der Leute kommt aber tatsächlich aus Dülmen selbst.“
Für 2022 ist Ausstellung im einsA geplant
Weil einige „Follower“ sich mehr Hintergrundwissen über die Entstehungsorte seiner Bilder wünschen („Wer den Ort nicht kennt, glaubt gar nicht, dass wir so etwas Schönes in unserer Gegend haben.“), gibt HG mittlerweile stets einige Hinweise zur Entstehung. Gleichzeitig erhält er eine Übersicht, wie viele Menschen seine Bilder erreichen. Absoluter Spitzenreiter bisher: Sein Album vom 24. April, geschossen an der Wildpferdebahn: „Die Fotos wurden über 50.000 Mal aufgerufen. Das ist für meine kleine Seite eine unglaubliche Zahl!“
Doch nicht nur im Internet finden seine Fotografien mittlerweile Beachtung: „Eine meiner Aufnahmen wurde für den Pfarrbrief der Gemeinde Heilig Kreuz verwendet, außerdem wurde ich von Frau Cäcilia Scholten, der Geschäftsleiterin des einsA, darauf angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, meine Bilder auszustellen. Das wird im dritten Quartal 2022 passieren. Ich bin bisher nie als Künstler aktiv geworden und finde es schon jetzt total aufregend.“
Verunsicherte Landwirte, Kühe und ein eisiger Bart
Wer täglich bei jedem Wind und Wetter in den Morgenstunden durch die Region streift, kann auch mit kleinen Abenteuern rechnen, wie sich HG lachend erinnert: „Man erlebt schon verrückte Dinge! Einmal hat mir die Google-Karte meines Handys versichert, dass ich einem Wanderweg folge – ich lief also nichts ahnend über einen einsamen Feldweg, auf ein Bauernhaus zu, dachte mir nichts Böses und schoss einige Bilder. Plötzlich rief mir eine unsichere aber bestimmte Frauenstimme zu, was ich denn bitte da machen würde! Erschrocken berichtete ich von meinen Absichten, und die Hofbesitzerin erklärte mir beruhigt und freundlich, dass es keinen ,echten‘ Weg gebe, dass ich aber die eingeschlagene Laufrichtung beibehalten könne, und wo ich dann herauskommen würde.“ Ein anderes Mal wurde es tierisch: „Ich veröffentlichte Bilder von Kühen auf meiner Seite, und plötzlich verlinkte eine Frau ihren Mann unter einem Bild: ,Sind das nicht unsere Kühe?‘ – Ich kam mit den Leuten ins Gespräch, sie fragten mich dann schließlich, ob ich ihnen die Aufnahmen schicken könnte. Nun hängt eines der Bilder bei denen im Wohnzimmer.“
Etwas schmerzhaft wurde es, als HG in der Eiseskälte des Februars lieber Fotos schoss, als auf seine Finger zu achten: Die leichten Erfrierungen mussten von einem Arzt versorgt werden – zum Glück ohne größere Schäden. Die Bilder vom gefrorenen Bart sind dagegen eine schöne Erinnerung …