Dülmen. „Lasst uns nicht von Krankheiten sprechen – die lassen wir zu Hause. Lasst uns von früher und den schönen Dingen in der Gegenwart erzählen!“ So lautete die Devise, die Gertrud Kersting ausgab, als sie und zehn ihrer Mitschülerinnen jetzt im Haus Waldfrieden zum Jahrgangsstufentreffen zusammenkamen – sage und schreibe 81 Jahre nach ihrer Einschulung in die Josefsschule.
„1963, 15 Jahre nach unserer Schulentlassung, haben wir uns zum ersten Mal getroffen“, berichtet Gertrud Kersting. Bis zu 35 ehemalige Schülerinnen der Einschulungsklasse folgten im Lauf der Jahrzehnte den Einladungen zu den Wiedersehen, die Gertrud Kersting alle paar Jahre organisierte. „20 bis 25 waren wir immer – mindestens. Vor allem die Auswärtigen waren regelmäßig nahezu vollzählig da – bis auf Leni Passmann, die seit 1951 in Kanada lebt“, so Gertrud Kersting, die mit ihr jedes Jahr zu Weihnachten Briefkontakt hat.
„Inzwischen sind 28 Leute von unserem Einschulungsjahrgang verstorben – und wir waren einst 62“, zeigt die wie die meisten ihrer früheren Mitschülerinnen 88-Jährige auf – froh, dass sich jetzt noch elf ehemalige Mitschülerinnen zusammenfinden konnten.
Viel wurde gemäß der Devise „Krankheiten sind heute Nachmittag kein Thema“ von früher geplaudert: Dass nur vier der Schülerinnen, die 1940 mit eingeschult wurden, evangelisch waren – und dass die es nicht leicht hatten: „Es wurde uns ja schon als schwere Sünde verkauft, die Türklinke der evangelischen Kirche zu berühren“, kann Gertrud Kersting heute nur mit dem Kopf schütteln.
Aber auch die Katholiken hatten so ihre Erfahrungen: „Katholischen Religionsunterricht hatten wir bei Schwester Desideria. Die war manchmal schlimm: Sie zog an den Ohren und hat uns ziemlich getriezt. Und, was mir auffiel: Die Bauernkinder bekamen als Note immer eine zwei. Von den Bauern gab es ja auch Eier und Butter.“
Ganz das Gegenteil war nach dem Krieg Kaplan Graweloh, erinnert sich Gertrud Kersting: „Das war ein ganz wunderbarer Mensch. Wir liebten ihn über alles – weil er so einfühlsam war. Er hatte Verständnis für uns, die wir ja allesamt vom Krieg traumatisiert waren. ,Möchtest Du Dir mal Dein Herz ausschütten?‘, fragte er uns. Er konnte wunderbar trösten und fand immer die richtigen Worte“, trägt Gertrud Kersting, deren beide Brüder im Zweiten Weltkrieg gefallen sind, diese Erfahrungen dankbar in ihrem Herzen.
Nach dem Krieg war das Gebäude der Josefschule so sehr zerstört, „dass wir hinter der jetzigen Hermann-Leeser-Schule die ersten Jahre in einer Baracke Unterricht hatten. In dieser Baracke gab es in den Holzwänden Löcher, durch die die Jungs – wir wurden ja nach Geschlechtern getrennt unterrichtet – kleine Briefe steckten“, schmunzelt Gertrud Kersting.
Eine bewegte Zeit: „In der Baracke mussten wir uns auf den Boden knien und auf den Stühlen schreiben – Tische hatten wir nicht“, so Gertrud Kersting. Und auch Heizmaterial gab es kaum. „Wir mussten oft Brennzeug für den Kanonenofen von zu Hause mitbringen.“ Einmal habe Kaplan Graweloh, der die Klasse gern nah um sich im Kreis versammelte, mit seinem Mantel zu nah am Ofen gesessen, so dass das Kleidungsstück anfing zu glimmen. „Zum Glück haben wir den Qualm früh genug wahrgenommen“, so Gertrud Kersting. „Wir hatten aber einen ganz schönen Schrecken.“
Sowieso war es eine Zeit voller Armut und bescheidener Verhältnisse: „Manch einer von uns musste sich 1948 für die Abschlussfeier der Schule, von der der Nordwestdeutsche Rundfunk berichtete, Schuhe ausleihen“, so Gertrud Kersting.
Die meisten der Schülerinnen blieben in Dülmen oder in der Nähe von Dülmen und wurden später Hausfrauen und Mütter oder arbeiteten bei der Textilfirma Bendix oder beispielsweise in der Polsterei der Dülmener Möbelfirma Bergjohann, erzählt Gertrud Kersting. Ein paar Schülerinnen von einst zog es aber auch in die Ferne: Helga und Inge, die aus Köln nach Dülmen gekommen waren und „so eine tolle rheinische Aussprache hatten“, so Gertrud Kersting, blieben nicht in Dülmen.
„Eine der beiden zog nach Kassel-Wilhelmshöhe, die andere verheiratete sich in Ägypten. Später kam sie aus Ägypten zurück nach Deutschland und zog in die Nähe ihrer Schwester in Kassel, die mal zu einem unserer Jahrgangsstufentreffen mit großem Auto und Chauffeur kam.“