Dülmen. Seit Oktober 2000 ist Werner Bolle das Gesicht der Polizei in Dülmens Innenstadt: Seitdem ist der Polizeihauptkommissar als Bezirksbeamter für den Stadtkern zuständig, und vermutlich wird es nur wenige Dülmener*innen geben, die dem „Stadtsheriff“, wie er augenzwinkernd genannt wird, noch nie begegnet sind. Doch an diesem Freitag endet Bolles Dienstzeit, und er geht knapp 46 Jahre nach seinem ersten Tag in der Polizeischule in den wohlverdienten Ruhestand.
Angefangen hat alles im Teenageralter, wie sich der heute 62-Jährige erinnert: „Ich habe den Entschluss gefasst, Polizist zu werden und bewarb mich um eine Ausbildung. Ich bekam glücklichweise die Zusage, und weil die Ausbildung damals noch ganz anders ablief als heute, landete ich am 1. Oktober 1975 bereits mit 16 Jahren in der Landespolizeischule Erich Klausener in Schloß Holte-Stukenbrock in Ostwestfalen…“ Das erste Mal „richtig“ vom heimischen Dülmen weg, paukte Werner Bolle dort nicht nur Gesetze und lernte den theoretischen Polizeialltag kennen – er erfuhr auch einen sportlichen Drill, an den er heute nur schmunzelnd zurückblicken kann: „Die Polizeischule war ganz in der Nähe vom Truppenübungsplatz Senne – da lag der eine oder andere Waldlauf nahe. Bei uns hieß es früher: ,Und Gott erschuf in seinem Zorn die Senne bei Paderborn‘. Das war zwar sehr anstrengend, ich muss aber gestehen, dass ich zu der Zeit zu einem sehr guten Leichtathleten wurde.“
Mit Abschluss seiner Ausbildung im März 1978 stand ihm dann allerdings ein waschechter Kulturschock bevor: Werner Bolle, der nun 18-jährige Teenager vom Lande, bekam sein erstes Revier zugeteilt: Der Schutzbereich 5 in Köln Nippes – zu der Zeit bekannt für Prostitution, Gewalt und Drogendelikte. Doch der damalige Polizeiwachtmeister behauptete sich und erlebte keineswegs nur schlechte Zeiten dort: „Ganz im Gegenteil – ich habe dort viel gelernt und nette Menschen kennengelernt. Klar, es waren schon einige prägende Momente dazwischen, aber rückblickend bin ich auch für diese Erfahrungen dankbar.“
Besonders kurios an seine Kölner Zeit war für Bolle, dass ihn dort plötzlich seine Heimat einholte: „Im Dezember 1978 hatte es in Dülmen einen Raubmord am Spiekerhof gegeben. Damals wurde der Geschäftsmann Karl-Josef Garwers beim Verlassen seines Supermarktes erschossen. Der Fall wurde sogar bei ,Aktenzeichen XY‘ im Fernsehen ausgestrahlt. Die Ermittlungen führten dann eineinhalb Jahre später zu einem Täter aus Bergisch-Gladbach, der dann zwei Wochen vor der Polizei flüchtete. Nach Köln, wo ich an seiner Jagd im Königsforst beteiligt war. Ich dachte damals, während ich da im Gebüsch gelegen habe, nur, dass die Welt doch ziemlich klein sei.“
Auf seine Zeit in Köln folgten zwei Jahre in Marl – erneut eine völlig andere Erfahrung für Bolle: „In Marl waren die Menschen eher Malocher, die wollten klare Worte hören. Als ich mal einem Verkehrssünder erklärte, was er falsch gemacht habe, legte mir sein Kumpel nur die Hand auf die Schulter und sagte: ,Erzähl‘ nicht so viel, sag ihm, was er bezahlen muss‘.“
Seit 1982 als Polizeibeamter im Kreis Coesfeld aktiv
Am 1. April 1982 wechselte Werner Bolle dann schließlich zur Polizei des Kreises Coesfeld, wo er anfänglich insbesondere als Motorradpolizist aktiv war. „Da habe ich gelernt, alleine klarzukommen.“ Wer denkt, der Wechsel ins beschauliche Münsterland hätte für Bolle einen ruhigen Alltag bedeutet, täuscht sich, wie Bolle sich erinnert: „Insbesondere in den 80er Jahren gab es tatsächlich einige Morde in und um Dülmen herum. Wir mussten etwa bei einem Mord an einer Tierärztin zwei Nächte lang an der Merfelder Wildbahn auf der Lauer liegen, um den Täter zu ermitteln. Tatsächlich wurde der Fall aber erst knapp 25 Jahre später durch DNA-Tests aufgeklärt.“
Bezirksbeamter in der Innenstadt ist Werner Bolle seit Oktober 2000 – und diese Zeit genoss er am meisten: „Natürlich war auch hier nicht jeder Tag harmonisch und voller freudiger Begegnungen – aber durch meine Präsenz im Stadtkern habe ich so viele Menschen getroffen und ich habe so oft helfen können, dass ich diesen Schritt immer wieder gehen würde. Wenn ich nachträglich jeden Kaffee, den man mir angeboten hat, annehmen würde, hätte ich in meinem Ruhestand nicht viel Zeit.“
Fast täglich war der Vater von drei heute erwachsenen Söhnen morgens an Dülmens Schulwegen zu finden, wo er für einen sicheren Weg der Schüler sorgte. Aber auch darüber hinaus gehörte eine enge Zusammenarbeit mit den Schulen zu seinem Alltag: „Ich war immer gerne bei der Verkehrserziehung in Schulen dabei, die meisten Dülmener Kinder und Jugendlichen wissen immer noch, dass ich, Herr Bolle, sie in der Schule oder im Kindergarten besucht habe. Zudem waren viele Dülmener Kinder bei uns auf der Wache zu Besuch, wo ich meistens dafür verantwortlich war, den Kleinen die Stadtwappen zu erklären. Den Teil der Arbeit werde ich sehr vermissen – allerdings möchte ich mich gerne weiterhin bei der Verkehrserziehung der Schüler beteiligen und die Kinder mit dem Rad begleiten.“
Haftbefehle, Ermittlungen und Schützenfeste
Zu den weiteren Aufgaben eines Bezirksbeamten gehörte die klassische Polizeiarbeit, also Haftbefehle und Geldstrafen durchsetzen, Fahrerermittlungen im Verkehrsbereich und die „Hilfe in der Not“, aber im Innenstadtbereich insbesondere auch freundliche Gespräche mit Passanten, Anwohnern und Kaufleuten und die Begleitung von Umzügen und ähnlichem. „Ich war bei jedem Dülmener Schützenfest dabei, wenn der Umzug durch die Straßen zog. Insbesondere bei den innerstädtischen Vereinen war ich regelmäßig am Start. Das habe ich gern gemacht.“
Natürlich gehörten keinesfalls nur positive Momente zum Berufsleben des Stadtsheriffs. So musste er, abgesehen davon, bei Wildunfällen das Leid verletzter Tiere zu beenden, zwar nur einmal seine Dienstwaffe abfeuern, doch vergessen wird er das nie: „Das war in Daldrup, nachdem wir Straftäter nach einem Pkw-Diebstahl stellen wollten. Ich war zum Glück nur gezwungen, einen Warnschuss in die Luft abzufeuern, bis die Täter aufgaben, aber allein die Vorstellung, was hätte passieren können, hat mich lange beschäftigt.“ In seiner Zeit in Köln musste er sogar miterleben, wie ein Kollege aus Notwehr einen angreifenden Mann erschießen musste. „Auch das brennt sich ein – aber es gab in der Situation leider keinen anderen Ausweg für meinen Kollegen.“
Das prägendste Erlebnis seiner Dienstzeit ereignete sich im Sommer 1994, als es auf der B 474 zwischen Dülmen und Lette am Abzweig Welte zu einem sehr tragischen Verkehrsunfall kam: „Es war Samstag, ich hatte Frühdienst. Es war eigentlich ein schöner Tag. Um die Mittagszeit machten wir uns Gedanken über den Feierabend. Ich war gerade mit einem Kollegen im Dienstwagen unterwegs, als wir zu dem Unfall gerufen wurden. Es war schrecklich, ein weißer Kombi war mit einem anderen Wagen zusammengestoßen und sowohl die Fahrerin als auch zwei Kinder kamen ums Leben, Beifahrer und ein Kind überlebten. Am schlimmsten war es, dass im Wagen drei Kinder saßen, unsere Ermittlungen aber ergaben, dass das Paar nur zwei Kinder hatte. So mussten wir ermitteln, wer das dritte Kind ist. Es war ein Nachbarkind, wie sich herausstellte. Ein tragischer Unfall, der mich bis heute begleitet. Zum einen hatte ich damals ebenfalls einen Nissan Bluebird – wie das Unfallauto. Zum anderen waren meine Kinder damals im gleichen Alter. Das hat mich noch viel mehr beschäftigt. Das Schicksal hat hier zwei Familien zerstört, und ich musste fortan immer daran denken, wie schnell einem dasselbe passieren könnte. Notfallseelsorger gab es damals noch nicht. Wir mussten selber damit klarkommen. Noch heute erinnern drei Kreuze am Wegesrand daran, was damals passierte – und ich kann nur jedem Autofahrer ans Herz legen, immer vorsichtig zu fahren.“
In dieser Woche wird Werner Bolle nur noch seine Abschiedsrunde drehen, dann muss er sich an seinen ruhigen Rentenalltag gewöhnen: „Vorerst alleine, meine Frau Ingrid arbeitet noch eineinhalb Jahre. Ich habe aber bereits viele Ideen, wie ich die Zeit verbringe. Ich freue mich darauf, viel Rad zu fahren, wenn das Wetter mitspielt. Außerdem würde ich gerne Stadtführungen leiten. Ich habe mich viel mit dem Archäologen Dr. Jentgens unterhalten und würde das erhaltene Wissen gerne teilen. Und zuhause habe ich nun endlich mehr Zeit, um meine beiden Enkeltöchter etwas zu ärgern. Wenn meine Frau dann auch fertig mit dem Arbeiten ist, wollen wir mit dem Wohnwagen Europa erkunden und überhaupt viel auf Reisen gehen.“
Wer seinen Bezirk übernimmt, sei bereits relativ sicher, aber noch nicht spruchreif: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, meine Position mit einer Person zu besetzen, die durch jahrelangen Dienst in Dülmen bereits gut vernetzt ist und sich hier auskennt. Ich wünsche insbesondere meinem Nachfolger beziehungsweise meiner Nachfolgerin und allen meinen Kollegen alles Gute für die weitere Zukunft. Ich habe mich im Kreis Coesfeld immer wohl gefühlt – Danke auch an die Dülmenerinnen und Dülmenern für die schöne Zeit.“
Übrigens: Ganz ohne einen Bolle muss die Polizeiwache Dülmen nicht auskommen, wie Werner Bolle stolz betont: „Mein jüngster Sohn Matthias ist Regierungsbeschäftigter im Verkehrskommissariat – ein Teil von mir bleibt also vor Ort.“
Bildzeile: Werner Bolle sagt „Auf Wiedersehen“: An diesem Freitag wird Dülmens Stadtsheriff, der als Bezirksbeamter seit Oktober 2000 für die Dülmener Innenstadt zuständig war, in den Ruhestand verabschiedet.
Foto: André Sommer