Dülmen (men/pd). Am Mittwoch, 1. März, Beginn 19 Uhr, wird Udo Evers in der Alten Sparkasse (Münsterstraße 29) aus seinem autobiografischen Buch „Verschickungskind. Ein Rinnsal in den Hinterhalt“ vorlesen. Begleitet wird er bei dieser Lesung, zu der der Eintritt frei ist, von Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e. V.“
In seinem 68-seitigen Buch, das vergangenes Jahr im Dülmener Laumann-Verlag erschienen ist – Preis: 9,80 Euro –, schildert der 56-Jährige, wie er mit gerade einmal fünf Jahren von Borken in den Schwarzwald verschickt wurde. Sechs Wochen verbrachte er ohne Familie oder Freunde in der Fremde und „war fest davon überzeugt, nie wieder nach Hause zu kommen“. Nach der sogenannten „Kur“ war nichts mehr wie vorher. „Die Folgen spüre ich bis heute“, sagt er. „Ein Verschickungskind bleibt man für immer.“
Die Kinderheilanstalt, in der Udo Evers gedemütigt und misshandelt wurde, hieß „Villa Sommerberg“. Sie gehörte zum „Orden der Schwestern der Liebe vom Kostbaren Blut“. Wie viele andere Heilanstalten und Verschickungsheime stand sie in konfessioneller Trägerschaft der katholischen Caritas.
In seinem Buch erzählt Udo Evers von strammen Märschen in der Nacht mit Schnee, der dem Fünfjährigen bis zur Hüfte reicht, von Todesangst, weil er als Nichtschwimmer in ein tiefes Schwimmbecken gezwungen wird, und von dem „Schraubstockgriff“ der Ordensfrauen, mit dem er über sein Gitterbett gezerrt wurde, als er sich nachts übergeben muss. Statt Wut erlebte er Scham über diese Demütigungen und war sicher: „Das glaubt mir doch keiner“.
Dazu kamen Schuldgefühle: „Wieso ist mir das passiert? Ich muss mich falsch verhalten haben. Oder warum tun mir meine Eltern das sonst an?“ Diese Gefühle verfolgen ihn bis heute.
Udo Evers teilt sein Verschickungsschicksal mit über 1,8 Millionen Menschen, die zwischen 1950 und 1990 aus und nach NRW verschickt wurden. 177 Heilstätten und Verschickungsheime gab es nach aktuellem Forschungsstand in Nordrhein-Westfalen.
Statt erholsamer Ferien erlitten viele Kinder dort Gewalt, Zwangsernährung und einige auch Medikamentenmissbrauch. Den lässt die Landesregierung gerade durch die Dülmener Pharma-Historikerin Dr. Sylvia Wagner aufarbeiten.
Der Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.“ (AKV NRW e.V.) will Betroffenen wie Udo Evers nach vielen Jahrzehnten des Schweigens und Leidens Stimme und Gesicht geben. Er fordert: „Die Träger sollen sich dem historischen Erbe und dem begangenen Unrecht stellen. Denn: Nur wer Verantwortung für seine Vergangenheit übernimmt, hat einen wachsamen Blick für die Gegenwart“, so fasst es Detlef Lichtrauter, Erster Vorsitzender des AKV NRW e.V. zusammen.
Es gibt erste Erfolge: Die Landesregierung fördert das Projekt zur Aufarbeitung und Begleitung der Verschickungskinder (CSP-KV-NRW), und am 21. März 2023 nimmt der „Runde Tisch Kinderverschickung“ auf Initiative des Landtags seine Arbeit auf. Dort werden neben den Betroffenen die Träger der damaligen Verschickungsheime vertreten sein. Dazu gehört auch der Caritas-Verband, in dessen Obhut Udo Evers als Kind traumatisiert wurde.
Bei der Lesung am nächsten Mittwoch wird Detlef Lichtrauter vom Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e. V. und von der Pharma-Historikerin Dr. Sylvia Wagner Arbeitskreis begleitet.
Im Anschluss an die Lesung lädt der AKV NRW e.V. zu einem Umtrunk mit Gelegenheit zum persönlichen Austausch ein.
Zum Thema: In den 1950er bis 1990er Jahren wurden weit über zehn Millionen Kleinkinder und Jugendliche in Deutschland in Erholungsheime öffentlicher, kirchlicher und privater Träger verschickt. Viele kamen traumatisiert zurück. Sie erlebten Missachtung und Misshandlungen in den Heimen. Das „Citizen Science Projekt Kinderverschickungen NRW“ (CSP-KV-NRW) des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.“ (AKV-NRW e. V.) hat sich zum Ziel gesetzt, diese unheilvolle Geschichte aus NRW-Perspektive aufzuarbeiten und Betroffene zu unterstützen. Das CSP-KV-NRW wird gefördert vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) des Landes Nordrhein-Westfalen und ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband.