Als am Freitagmorgen um 6 Uhr der Wecker in seinem Kölner Heim klingelt, steht seine Adidas-Tasche bereits mit acht Trikots, zwei paar Stutzen und mehreren Hosen gepackt in der Ecke. Oben drauf liegt der DB-Fahrschein nach Leipzig, den der DFB ihm eine Woche zuvor zusammen mit dem Hotel gebucht hat. Doch bevor es auf die rund fünfstündige Bahnfahrt geht, steht für den hauptberuflichen Pressesprecher des Polizeipräsidiums Köln/Leverkusen noch ein ganz normaler Frühdienst bevor. Von der Dienststelle zum Bahnhof Deutz sind es nur wenige Minuten. Trotz überfüllter Züge und einer halbstündigen Verspätung bleibt Hüwe gelassen mit Blick auf seine nächste Partie – schließlich reist er einen Tag früher an. Das Schiedsrichtergespann um Teamleiter Florian Badstübner hat bereits im Steigenberger Hotel in der Sachsenmetropole eingecheckt. Bei einem gemeinsamen Abendessen (es gibt Nudeln) bereiten sie sich auf ihr Spiel vor, das das eine oder andere Thema zu bieten hat – wie beispielsweise Bochums neuer Trainer.
Samstagmorgen, 8 Uhr, in der Red-Bull-Arena bereitet man sich auf rund 50.000 Fans vor: Ohne Philipp Hüwe und sein Team kann die Bundesligapartie natürlich nicht stattfinden. Betreuer von RB fahren gegen 13.15 Uhr am Hotel vor und laden das einheitlich in Trainingsanzügen gekleidete Team ein, um sie den kurzen Weg in die Arena zu bringen. Rund zwei Stunden sind es noch bis zum Spielbeginn. Das Schiedsrichtergespann betritt als Allererstes den grünen Rasen und nimmt diesen genau unter die Lupe. In den Stunden zuvor hat es viel geregnet. Aber das Geläuf ist in einem Topzustand. An den Tornetzen wird kräftig gezupft, damit sich dort später von außen durch ein Loch kein Ball hinein mogeln kann. Auf den Rängen kommt nun auch langsam Bewegung rein. Knapp 1.000 mitgereiste Bochum Fans werden später ihre Mannschaft anpeitschen. „Ich bin lieber in vollen Stadien“, betont Hüwe, der mitten in der Corona-Zeit in leeren Stadien seine Bundesliga-Karriere gestartet hat. 45 Minuten sind es noch bis zum Anpfiff. Die Teams schreiten aus den Katakomben zum Warmmachen, auch das Schiri-Team kommt gleich mit durch den Tunnel. „Ich bereite mich eigentlich immer gleich vor“, spricht der 32-Jährige von Ritualen. „Ich betrete immer mit dem rechten Fuß zuerst den Rasen“, verrät Hüwe, dass er abergläubisch ist. Auch sein Schweißband am rechten Arm erzählt eine eigene Geschichte. „Das habe ich seit meiner Zeit in der Regionalliga immer dabei.“
Kurz vor halb vier kommen die Teams unter dem Getöse der Fans auf den Rasen. Für diesen Moment hat Hüwe seine Fahne an das Einlaufkind Paul abgegeben, der die Chance bravourös nutzt, um seiner Familie an den Fernsehbildschirmen damit zu winken. Anpfiff von Badstübner. Hüwe ist auf der rechten Angriffsseite der Bochumer unterwegs. In seinem Ohr steckt ein persönliches Headset. Dafür wird übrigens vor der Saison ein Ohrabdruck genommen, damit es nicht bei jedem Sprint herausfällt. Denn stetig auf Ballhöhe zu bleiben, setzt hohe Geschwindigkeiten voraus. Auch die Kommunikation dadurch ist gelernt. Hier wird nicht nach Lust und Laune hinein gebrüllt. „Wir werden regelmäßig von Piloten geschult, damit wir uns auf kurze und klare Aussagen beschränken“. Der Hauptschiedsrichter hat jederzeit seine Assistenten „auf dem Ohr“. Zudem verspürt er ein Vibrieren und einen Ton auf dem Arm, wenn die Linienrichter auf den Kopf an der Fahne drücken. „Das Hawk-Eye wird seit dieser Saison nicht mehr auf unserer Uhr dargestellt, sondern wird mit einer Frauenstimme dreimal aufs Ohr gespielt: Goal, Goal, Goal!“ Das Hawk-Eye wird dann benötigt, wenn das Schiedsrichtergespann mit dem bloßen Auge nicht erkennen kann, ob der Ball über der Torlinie ist. „An einem regelmäßigem Sehtest kommen wir aber natürlich nicht vorbei“. Irgendwie verständlich. Denn bei Abseitsentscheidungen hilft halt keine Torlinientechnik. Bei der Partie am Samstag in Leipzig jedoch bleibt das Schiedsrichtergespann tadellos. Auch die Herren im Kölner Keller verleben einen ruhigen Fußball-Nachmittag vor den Monitoren aus Leipzig. „Die Kollegen sitzen tatsächlich im Keller und das beim Sender RTL“, berichtet Hüwe, der dort auch hin und wieder eingesetzt wird. Fest steht: „Pizza bestellen wir dort definitiv nicht“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Das wird ihnen bei mutmaßlichen Fehlentscheidungen von Kritikern des Videobeweises oft scherzeshalber nachgesagt. Am vergangenen Samstag gibt es eine kurze Kommunikation zwischen dem Unparteiischen Florian Badstübner und dem Videoassistenten Johann Pfeifer. Der Grund ist ein Zweikampf zwischen Leipzigs Christopher Nkunku und Tim Oermann in der zweiten Spielhälfte. Hier steht der dritte Elfmeter des Tages zur Diskussion. Ein schneller Blickkontakt mit Kopfschütteln und Abwinken zwischen Hüwe und Badstübner deutete aber direkt daraufhin, dass es für einen Strafstoß nicht reicht. Es gibt auch keine Beanstandung des VAR. Der RB-Torjäger Nkunku schiebt dann kurz vor dem Ende aus dem Spiel heraus noch zum 4:0-Endstand ein.
Mittlerweile hat Philipp Hüwe fast jedes Bundesligastadion von der ersten bis zur dritten Liga gesehen. „Jedes Haus hat seinen besonderen Reiz.“ Ein Lieblingsstadion lässt er sich nicht entlocken. Aber er hat einen Lieblingsverein, so betont er stolz: Ganz klar die DJK Coesfeld! Diese ist zugleich sein Heimatverein. In der Kreisstadt wohnt auch seine Familie. Philipp ist mittlerweile in der Rheinmetropole Köln zu Hause, kann sich aber durchaus vorstellen eines Tages mit seiner Frau ins Münsterland zurückzukehren. „Köln ist für mich auch aus verkehrstechnischer Sicht ideal. Man ist schnell an den Flughäfen Köln und Düsseldorf, zudem mit dem ICE rasch in Richtung Osten und Süden unterwegs.“ So tritt er am Sonntagmorgen schließlich mit dem Zug die Rückreise an.
Die Leipziger Schiri-Kabine gehöre rückblickend zu den komfortableren in der Bundesliga. So haben die Unparteiischen nach der Partie die Gelegenheit in die Eistonne zu gehen, von der Hüwe auch direkt Gebrauch macht. Natürlich sei es kein Vergleich mit den Kabinen zu seiner Zeit in der Kreisliga, in der ein Kleiderhaken bereits als Luxus erschien. Übrigens: Hüwe gesteht, dass er in seiner Anfangszeit sich für Adler Buldern II hat sperren lassen. „Da wollte ich nicht mehr hin.“ Das hatte aber wohl nichts mit dem Zustand der Kabine zu tun. Ob Philipp Hüwe eines Tages auch die Umkleiden von Real Madrid, dem FC Barcelona oder Manchester City kennenlernt, kommentiert er ganz trocken: „Darüber mache ich mir keine Gedanken.“ Assistent auf europäischer Ebene wäre nochmal eine Stufe höher. Träumen darf sicherlich erlaubt sein!
Nachwuchssorgen bei den Schiris / „Die Lage ist besorgniserregend“
Die Lage beim Schiedsrichternachwuchs ist besorgniserregend. In der D-Liga werden seit dieser Saison keine Spiele mehr besetzt, in der Kreisliga C pfeift im Schnitt drei Spiele kein Schiri mehr – Tendenz steigend! In der B-Liga steht dieser Trend ab der neuen Saison bevor. Als Gründe nennt Bundesliga-Schiedsrichterassistent Philipp Hüwe die Coronakrise, die sicherlich an der Unterdeckung der Schiris beigetragen hat. Aber als Hauptgrund sieht er die lauernde Gefahr von Pöbeleien in den unteren Klassen. „Hier muss ein Umdenken stattfinden.“ Die Kollegen auf den Plätzen hätten keine Lust mehr sich beschimpfen zu lassen oder sogar angegriffen zu werden. „Die Spieler sind gar nicht mal das Problem, sondern die Zuschauer. Was die sich an Beleidigungen gefallen lassen müssen, ist erschreckend.“ Und Hüwe kann den Zustand auch mit Zahlen belegen. Im Fußballverband Ahaus/Coesfeld gibt es seit 2019 nur 60 neue Schiedsrichter*innen, von denen rund 30 Prozent wieder aufgehört haben oder auch „Karteileichen“ sind. „In den Nachbarkreisen sieht es noch düsterer aus“, berichtet Paulo Goncalves, Vorsitzender des Kreisschiedsrichterausschusses. „Das wird uns auch blühen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.“
Hüwe erinnert sich: „Damals gab es 20 Euro pro Spiel. Ich habe mir in meiner Jugend damit mein Pausenbrot und meine Prepaidkarte fürs Handy verdient.“ Ab und an half er seinem Bruder Tobi noch beim Streiflichter austragen. „Am Anfang meiner Zeit war ich eine Heulsuse. Sobald mich jemand beleidigt hat, habe ich geheult“, sagt Hüwe, der mit 16 Jahren sein erstes Spiel zwischen Raspo Coesfeld und Gescher leitete. Er sei so nach einer bescheidenen Fußballerkarriere dem runden Leder treu geblieben, hat sich sportlich fit gehalten und vor allem Verantwortung gelernt. „Ich wäre bei der Polizei nicht da, wo ich heute bin“, betont der Coesfelder seine enorme Persönlichkeitsentwicklung als Schiedsrichter.