Lette/Legden. Ein Großteil der Recycling-Schulhefte, Collegeblöcke und unter anderem Mal- und Zeichenblöcke, die in Deutschland bei den Discountern, aber auch in einigen Drogerie- und Supermärkten verkauft werden, kommen aus Legden. Sie haben dort die Fertigung der Firma Venceremos GmbH durchlaufen, die pro Jahr rund 25.000 Tonnen Papier verarbeitet. „Wir sind in Deutschland die Nummer drei unter den Herstellern von Schulschreibwaren aus Papier und europaweit der größte Produzent, was die Verarbeitung von Recyclingpapier betrifft“, sagt Paul Königsmann aus Lette, zusammen mit seiner Partnerin Ursula Horstmöller Eigner und Geschäftsführer des Unternehmens.
Auf einem Gelände mitten in Legden, an der Hauptstraße 44, befinden sich die 14.000 Quadratmeter großen Hallen, in denen der Maschinenpark steht. Beeindruckend sind die Vollautomaten, bei denen vorne eine große rotierende Papierrolle zu sehen ist und am Ende fertige Produkte, zum Beispiel Schulhefte und Collegeblöcke, vom Band laufen. Fast alle Maschinen wurden gebraucht gekauft. „Bei uns werden die Maschinen noch mit dem Schraubenschlüssel justiert – und nicht mit dem Laptop“, schmunzelt Paul Königsmann. „Es sind Maschinen, die wir weitgehend mit eigenem Personal warten und reparieren können.“
Drei Spiralbindungs-Vollautomaten in Legden
Er zählt die wesentlichen Maschinen auf: „Collegeblock-, Schreib- und Zeichenblockmaschinen, zwei Schulheft-Vollautomaten – eine meist in der Verwendung für DIN-A4-Hefte, eine für DIN-A5-Hefte –, ein Ringbucheinlagenautomat und drei Spiralbindungs-Vollautomaten.“ Speziell die sind recht selten: „In Deutschland gibt es davon acht Stück, europaweit keine 50, drei davon stehen hier in Legden“, sagt Paul Königsmann.
Für die Bedruckung der Deckblätter und der Schulheft-Cover sind zwei Bogenoffset-Druckmaschinen im Einsatz: Die eine kann in einem Durchgang alle üblichen vier Druckfarben auf die Vorder- und eine Farbe auf die Bogen-Rückseite drucken. Die andere Maschine kann neben den vier Farben auf die Vorderseite auch zwei Farben auf die Bogen-Rückseite drucken. Beide Druckmaschinen haben ein Zusatzaggregat vorgeschaltet, mit dem Papier von Rollen zu Bögen geschnitten wird. „Papier von Rollen ist deutlich preisgünstiger als fertig konfektionierte Bögen“, erklärt Paul Königsmann.
Die meisten Maschinen wurden gebraucht gekauft
Die allermeisten Maschinen sind gebraucht in das Unternehmen gekommen. Eine jedoch wurde vor vier Jahren für 600.000 Euro neu angeschafft: Ein Automat, der Papier verschiedener Farben oder Sorten zusammenträgt und zu einer Verkaufseinheit verpackt.
Der Automat funktioniert so: Zehn Zählmaschinen befördern Papier in zehn verschiedenen Farben nacheinander auf ein Förderband, das die Stapel mit jeweils 25 Blatt farbigem Papier sammelt. Mit einem Deckblatt versehen, werden die 250 Blätter auf Kante gebracht und mit Folie verpackt. „Diese Maschine ist in Europa einzigartig“, sagt Paul Königsmann. Jede einzelne Zählmaschine hat die Kapazität von 600 Blatt pro Minute; pro Minute verlassen 30 Packungen die Maschine, erklärt Dietmar Weigt. Seit 2001 arbeitet der Dülmener als Buchbindermeister bei Venceremos – zuvor war er bei der Buchbinderei Bertelsmann in Dülmen auf dem Quellberg tätig gewesen. Alle übrigen Mitarbeiter von Venceremos kommen aus der Region. Der Ausstoß der Firma ist beachtlich. Pro Jahr verlassen nach Aussage des Unternehmens rund 30 Millionen Schulhefte, 18 Millionen Spiralblöcke, 3 Millionen Zeichenblöcke und 1,5 Millionen Briefblöcke das Werk.
80 Prozent der Rechnungen gehen im Sommer raus
Das Geschäft mit Schulschreibwaren ist ein Saisongeschäft: „80 Prozent unserer Rechnungen schreiben wir zwischen Mai und August. Im Herbst beginnt bereits die Vorrats-Produktion für das neue Jahr.“
Das hängt mit den Verkaufszyklen zusammen: „Der überwiegende Teil des schulischen Schreibpapiers wird im Sommer zu den ,Back to School‘-Verkaufsaktionen des Handels benötigt. Im restlichen Jahresverlauf sind die Umsätze mit dieser Produktgruppe vergleichsweise gering“, zeigt Paul Königsmann auf.
All das, was in Mengen in Legden produziert wird, wird im Werksverkehr nach Schöppingen transportiert. Dort hat das Unternehmen 40.000 Quadratmeter Lagerflächen, denn das Saisongeschäft ist sehr platzintensiv. Zum einen wird dort das für die Herstellung der Produkte notwendige Material – überwiegend Rollenpapier – gelagert.
Zum anderen werden dort die Endprodukte bevorratet, bis sie vom Handel abgerufen werden. Die Lkw fahren also mit Fertigware nach Schöppingen und bringen auf dem Rückweg Papierrollen mit. Paul Königsmann fasst das Geschäftsmodell so zusammen: „Im Grunde arbeiten wir mit Immobilienkapazitäten und Kapitaleinsatz.“
Das aber nicht einfach so: „Das Kalkulationsprogramm ist mein Freund“, schmunzelt der 67-Jährige. „Das befrage ich immer, wenn es um Kosten- und Preiskalkulationen geht.“ Wobei längst nicht alle Entscheidungen bei der Geschäftsleitung stattfinden. „Wir sind ein gut eingespieltes Team, und die Kolleginnen und Kollegen in Verkauf, Einkauf und Produktionsplanung sind sehr kompetent und haben viele Freiräume. Flache Hierarchien und ein offener Umgang waren immer Teil unserer Unternehmenskultur.“
Bei reiner Lehre bleiben und Mitarbeiter entlassen?
In den vier Jahrzehnten, in denen es die Venceremos GmbH gibt, hat es manch eine Herausforderung gegeben.
So etwa, als Anfang der 1990er Jahre der Umsatz von Recyclingpapier-Produkten von einem Jahr aufs nächste um 20 Prozent sank. „Wir hatten bis dahin ausschließlich Recyclingpapier verarbeitet und sind im großen Boom der achtziger Jahre entsprechend gewachsen. Dann bekam Frischfaserpapier ein positives Image: Durch ein geändertes Bleichverfahren erhielt Frischfaser-Papier die Positiv-Wertung ,chlorfrei gebleicht‘. Innerhalb kurzer Zeit sank die Nachfrage nach Recycling-Papier – und wir bei Venceremos, die wir bis dahin ja ausschließlich und aus Überzeugung Recyclingpapier verarbeitet haben, standen vor der Entscheidung: Entweder wir bleiben bei der reinen Lehre, verarbeiten ausschließlich Recyclingpapier, müssen dann aber Mitarbeiter entlassen – oder wir verarbeiten künftig Frischfaser-Papier für diejenigen Kunden, bei denen wir Hoffnung haben, dass sie irgendwann auf Recyclingpapier umsteigen.“ Diese Option wurde gewählt.
Recyclingpapier hat in Legden 90-Prozent-Anteil
Heute verarbeitet Venceremos mehr als 90 Prozent Recyclingpapier, der Frischfaseranteil liegt unter 10 Prozent. „Wobei man es dem Recyclingpapier heute nicht mehr ansieht, dass es aus Altpapier und nicht aus Frischfasern hergestellt wurde“, so Paul Königsmann.
Die technischen Verfahren zur Herstellung von Recyclingpapier sind ausgereift, die Färbung ist, wenn gewünscht, hell und die Oberfläche glatt.
Dabei kann sich die Energiebilanz sehen lassen: Nach Angaben des Umweltbundesamtes liegt die Energieeinsparung bei 60 Prozent und die Wasserersparnis bei bis zu 70 Prozent gegenüber Frischfaserpapier!
Und, ganz wichtig: Der Rohstoff ist Altpapier und keine Bäume!
Ware für Discounter und Filialisten
Von der Kolping-Altpapiersammlung in Lette hin zum europaweit größten Recyclingpapier-Schreibwaren-Hersteller. So könnte man die Geschichte betiteln und einen spannenden Film drehen, in dem sich der Zeitgeist über Jahrzehnte spiegelt. Und auch die (deutsch-)deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte…
„Aufgewachsen bin ich in Gladbeck, drei Kilometer von der Glückauf-Kampfbahn Gelsenkirchen entfernt. Ich bin also Schalke-Fan“, sagt Paul Königsmann. 1974 zog die Familie nach Lette, und er wurde im Kolping aktiv. Als Student der Wirtschaftswissenschaften in Essen blieb genug Zeit für viele Aktivitäten. Eine sehr engagierte Gruppe fand sich im Jugendheim zusammen, zu jener Zeit der „Hotspot“ von Lette. Mit Altpapiersammlungen und Kontakten nach Brasilien fing dann alles an.
In Coesfeld wurde ein Dritte-Welt-Laden gegründet, und die Letteraner Gruppe schloss sich dem an. Nach Abschluss des Studiums begann Paul Königsmann als Verbandsprüfungs-Assistent beim Sparkassen-Verband in Düsseldorf. Den Rückweg nutzte er regelmäßig, um bei der Dritte-Welt-Waren-Handelsgesellschaft GEPA in Wuppertal Nachschub für den Coesfelder Dritte-Welt-Laden und befreundete Gruppen einzukaufen.
Recycling-Papier Ergänzung zu Dritte-Welt-Produkten
Als Ergänzung zu den Dritte-Welt-Produkten wurden im Dritte-Welt-Laden auch Produkte aus Recycling-Papier verkauft. Die verkauften sich sehr gut, besonders das Motiv-Briefpapier. Bezogen wurde die Ware von einem Großhändler aus Laer, der leider nach einiger Zeit das Geschäft einstellte. Durch Zufall konnte dann bei einer Versteigerung ein einfacher, motorbetriebener Matritzendrucker für wenig Geld erstanden werden – das war der Start in die Eigenproduktion: „Wir bedruckten Recyclingpapier-Bogen mit selbst kreierten Designs: Bäumchen, Friedenstaube, Hexe, … – das war damals ein Muss. Die Papierbogen wurden gestapelt, an der Kopfseite mit Leim bestrichen, abgezählt und mit dem Messer aufgetrennt, und schon hatten wir einen Briefpapier-Block“, so Paul Königsmann. Druckwerkstatt war ein Raum im Jugendheim Lette.
Damit ging‘s unter anderem nach Münster zum Trödelmarkt auf der Promenade, zu Weihnachtsmärkten und zu den Katholiken- und Kirchentagen. Im nächsten Schritt wurden andere Dritte-Welt-Läden, Bioläden, Markthändler und unter anderem auch Umweltinitiativen in ganz Deutschland beliefert. Recyclingpapier war ein sehr erfolgreiches Nischenprodukt in der Alternativszene.
Neue Märkte wurden erschlossen
Das Sortiment wurde stetig weiterentwickelt, viele Papeterie-Artikel und Schulschreibwaren kamen hinzu, die Produkte wurden professioneller, und so wurde auch der Buch- und Schreibwarenhandel auf die „Öko-Produkte“ aufmerksam. Der erste Stand auf der Internationalen Frankfurter Herbstmesse, ausgestattet mit IKEA-Holzregalen und Jutesäcken, wurde ein großer Erfolg und eröffnete neue Märkte. Das Geschäftsfeld Fachhandel wird heute unter dem Dach einer Tochterfirma als eigene Einheit geführt.
Recycling war jahrelang Statussymbol
Ökobewegung, Friedensbewegung – „Recyclingpapier war ‚in‘. Es war so etwas wie ein Statussymbol bei den Schülern und Studenten – und das Papier war im Vergleich zu heute ziemlich dunkel“, so Paul Königsmann. „Die Recyclinghefte hatten in den 1980er Jahren bis zu 30 Prozent Marktanteil in Norddeutschland und 60 Prozent Marktanteil in Süddeutschland“, so Paul Königsmann. Heute liegt der Recyclingpapieranteil in Deutschland bei insgesamt 20 Prozent – Ende der 1990er Jahre hatte er zwischenzeitlich bei mageren drei Prozent gelegen.
Venceremos GmbH wurde am 3. Oktober 1982 gegründet
„Von den etwa 15 Kolpingaktiven aus Lette, die ganz zu Beginn mit dabei waren, haben acht am 3. Oktober 1982 die Venceremos GmbH gegründet – alle acht waren, wie das damals üblich war, Gesellschafter, Geschäftsführer und Mitarbeiter, ein selbstverwalteter Betrieb“, so Paul Königsmann. Von den Gründern arbeiten heute noch drei im Unternehmen. Als Name der GmbH wurde der Begriff Venceremos gewählt: Das Wort ist spanisch und bedeutet übersetzt „wir werden siegen“. So lautete auch das Motto der lateinamerikanischen Freiheitsbewegung.
Von Coesfeld nach Legden
Nach mehreren Umzügen konnte 1985 ein Teil der ehemaligen Coesfelder Weberei an der Dülmener Straße – der heutige Standort der Firma Würth – angemietet werden. Die Druckerei Zebra aus Hameln wechselte nach Coesfeld in die ehemalige Weberei; Buchbindearbeiten übernahm unter anderem Haus Hall, und die Produktion wurde stetig ausgeweitet. „1985 belegten wir noch 500 Quadratmeter in der alten Weberei – 1988 schon zehn Mal so viel“, so Paul Königsmann.
Auf der Suche nach einem anderen Standort für die rasant wachsende Unternehmung fielen die Produktionsgebäude eines ehemaligen Möbelherstellers in Legden ins Auge. Im Zuge der Insolvenz der Möbelbaufirma stand die Immobilie im Zentrum von Legden zum Verkauf.
Die Venceremos GmbH konnte das Gebäude günstig kaufen und zog 1988 von Coesfeld nach Legden. Später, als auch diese Fläche nicht mehr reichte, ergab sich die Gelegenheit, weitere Hallen in Schöppingen zu erwerben.
Maschinen aus Halle/Saale
„In der DDR hatte es drei große Schreibwarenproduktionen gegeben – eine davon der VEB Hermes in Halle. 1995 konnten wir den kompletten Maschinenpark der Firma Hermes übernehmen“, berichtet Paul Königsmann weiter zur Firmenentwicklung. „Einige Mitarbeiter des ehemaligen DDR-Betriebes zogen mit den Maschinen ins Münsterland um und trugen mit ihrer Kompetenz maßgeblich zur weiteren erfolgreichen Entwicklung von Venceremos bei“, so Paul Königsmann.
Das war der große Sprung in das konventionelle Schreibwaren-Massengeschäft. Der erste große Kunde war der Drogeriemarkt „Ihr Platz“, danach folgten Aldi und zahlreiche weitere Filialisten.
Erster Großauftrag brachte Arbeit für Monate
„Der erste Großauftrag war ein in Folie eingeschweißtes 3er-Pack Schulhefte. Mehrere Monate hatten wir an diesem Auftrag zu arbeiten, die Zeit wurde eng, und drei Tage vor dem Liefertermin wurden wir damit fertig“, atmet Paul Königsmann noch heute auf, dass damals alles funktioniert hat.
Alles in allem eine bewegte Unternehmer- und Firmengeschichte, auf die Paul Königsmann zurückblicken kann. „Klima- und Ressourcenschutz ist das Thema unserer Zeit“, sieht er das Unternehmen mit seiner Ausrichtung auf Recycling-Produkte richtig aufgestellt.
Derweil schreitet die Digitalisierung in großen Schritten voran – Corona hat die Entwicklung diesbezüglich auch an den Schulen beschleunigt. Bleibt abzuwarten, wie sich das in den kommenden Jahren auswirken wird. Der umtriebige Unternehmer Paul Königsmann und sein Team haben jedenfalls noch viel vor – und Neffe Michael Königsmann steht in den Startlöchern bereit.