Merfeld/Kanada. Als Frederik Bergmann, genannt „Fredde“, Anfang der 1990er Jahre im Grundschulalter den Film „Free Willy“ schaute, in dem der junge Hauptdarsteller sich mit einem Orca (Schwertwal) anfreundet, fasste Fredde einen Entschluss: „Wenn ich groß bin, will ich echte Orcas sehen!“ Danach zogen die Jahre ins Land, der kleine Merfelder wurde erwachsen, fasste im Berufsleben Fuß und verdiente eigenes Geld – bis er sich 2015 seinen Traum erfüllte und eine Reise in den Westen Kanadas starte, um endlich Orcas zu sehen. Mit ungeahnten Folgen …
Denn in dem nordamerikanischen Land traf er nicht nur auf seine geliebten Schwertwale – die Reise prägte ihn nachhaltig: „Nach dem Urlaub wurde ich die Bilder dieser unglaublichen Natur in meinem Kopf nicht mehr los! Ich wollte da wieder hin.“ Was er tat: Eine zweite Reise folgte und seine Begeisterung wuchs. So sehr, dass er einen Entschluss fasste: „Ich will da leben!“ Wieder in Deutschland startete er mit den Vorbereitungen, kündigte irgendwann seine Versicherungen, verkaufte sein Hab und Gut und stieg ins Flugzeug Richtung Westküste Kanadas. „Natürlich bin ich nicht blind ins Abenteuer aufgebrochen und habe einige Vorbereitungen getroffen, aber tatsächlich startete ich dort fast bei Null. Ich suchte mir einen Job – ich arbeitete am Anfang an einem Skilift –, eine Wohnung und begann mein neues Leben.“
Dass er für sich alles richtig gemacht zu haben schien, zeigte sich schon vier Wochen später – denn er traf auf Jana, eine ebenfalls ausgewanderte Deutsche aus der Nähe von Koblenz, die sich ebenfalls alleine auf den Weg gemacht hatte – und es funkte. Die beiden wurden ein Paar und bauten sich zusammen ein Leben „am Ende der Westlichen Zivilisation“ auf, denn sie zogen an die Westküste von Vancouver Island, einer Pazifik-Insel, die wiederum am westlichen Ende des nordamerikanischen Kontinents liegt. So wurde Ucluelet die neue Heimat des Paares. Der Name des Ortes, in dem unter 2.000 Einwohner leben, leitet sich vom Begriff für einen „Sicheren Hafen“ aus der Sprache der indigenen Bevölkerung ab. Und genau das ist Ucluelet für Bergmann und seine Freundin geworden.
Um sein Ziel zu erreichen, musste der heute 37-Jährige allerdings viele Entbehrungen auf sich nehmen, wie er berichtet: „Man muss sich bewusst sein, dass man wirklich alles aufgibt und erst einmal ein ziemlich einfaches Leben führt. Das Arbeiten am Skilift ist dafür ein gutes Beispiel. Ein einfacher Job, der Geld auf das Konto brachte.“ Doch schon beim Thema Beruf merkte Fredde einen gravierenden Unterschied zu Deutschland: „Wenn man in Deutschland jemanden fragt: ,Was machst Du so?‘, werden die meisten mit ihrem Job antworten. In Kanada kommen erst die Hobbies und Freizeitbeschäftigungen. Die Arbeit ist viel mehr ein Mittel zum Zweck. So ist es hier auch viel verbreiteter, einfach den Job zu wechseln oder auch einen Sommer- und einen Winterjob zu haben.“
Und so standen auch beim Merfelder Auswanderer schon einige Jobwechsel an: „Nach der Zeit beim Skilift hatte ich einen Job bei einem Outdoor-Geschäft. Die haben mich sehr unterstützt, als es darum ging, ein Visum zu bekommen. Da musste ich unter anderem richtig Vokabeln des Alltags lernen, um den Sprachtest zu bestehen. Der Job hatte aber einen Haken: Auf Urlaubswünsche oder ähnliches wurde nicht immer Rücksicht genommen.“ Auf den Outdoor-Job folgte ein „echter Traum“ für Fredde und Jana: „Wir waren gemeinsam als Park-Ranger für ein Naturareal zuständig. Mit einem eigenen Jeep. Wir haben dafür gesorgt, dass das Stück Natur nicht zumüllt, haben Touristen Rede und Antwort gestanden, mussten aber auch die Toiletten an den Rastplätzen sauber halten. Dennoch war es einfach großartig. Lustigerweise sind so viele Touristen aus Deutschland hier, dass ich fast mit der Hälfte Deutsch sprechen konnte.“
Auf den Ranger-Job folgte für Bergmann die Selbstständigkeit – „in Deutschland“, mehr oder weniger: „Bevor ich nach Kanada zog, arbeitete ich für eine heimische Firma – und das tue ich nun wieder. Allerdings als Freelancer. Ich stehe hier morgens um 6 Uhr auf und kann dann aus meinem Homeoffice mit deutschen Kunden telefonieren. Für die ist es dann 15 Uhr. Ich mache also praktisch die Spätschicht.“ Doch tatsächlich ist diese Tätigkeit nun insbesondere sein „Winter-Job“, denn seit wenigen Tagen ist Fredde seinem Traum der Orcas noch viel, viel näher: „Ich habe das große Glück, dass ich nun für einen Whale-Watching-Anbieter arbeiten darf! Also für ein Unternehmen, das mit Booten hinausfährt und Touristen das Wildleben Kanadas zeigt. Und das sind insbesondere Wale!“
Überhaupt hat das deutsche Paar schon hautnah erfahren, wie wild Kanadas Natur sein kann, wie Bergmann schmunzelnd berichtet: „Jana und ich gehen an den Wochenenden regelmäßig gemeinsam Wandern und übernachten dann auch in unserem Zelt. Und da hatten wir schon einiges am Zelt. Schwarzbären, Pumas, Wölfe. Es ist allerdings immer gut gegangen. Man muss wissen, auf was man sich hier einlässt.“ So gibt es auch beim Joggen gehörige Unterschiede zum Laufen durch Merfeld: „Wenn ich hier Joggen gehe, würde ich mir niemals Kopfhörer ins Ohr stecken, um Musik zu hören. Man sollte sich stets bewusst sein, dass man Wildtieren begegnen könnte.“ Auch Grizzlybären gibt es auf Vancouver-Island, „die größte Gefahr geht aber eher von den Pumas aus. Die trauen sich eher in die Stadt.“
Natürlich gibt es auch Dinge, die Bergmann an Deutschland vermisst: „Angefangen natürlich bei meiner Familie und meinen Freunden, das ist ja klar. Ich versuche allerdings, mindestens zwei Mal im Jahr nach Deutschland zu kommen. Dann – und darüber musste ich selber etwas lachen – die Deutschen Behörden. Die heimische Ordnung und Disziplin fehlt hier leider etwas. An dritter Stelle deutsche Brötchen! Irgendwie ist es egal, wo man auf der Welt ist – die Brötchen in Deutschland sind immer besser. Und alte Häuser. Wie in Münster. Kanada ist halt ein sehr junges Land, und entsprechend wenig spektakulär ist die Architektur. Und die Bundesliga vermisse ich. Früher war ich oft in Dortmund – nun kann ich mir maximal die Spieltagszusammenfassung im Internet ansehen.“
Doch trotz all dieser Punkte ist Fredde Bergmann mehr als zufrieden mit seinem eingeschlagenen Weg: „Die Natur, die Wale, meine Freundin, diese Weite – ja, ich bin glücklich hier. Das habe ich in der vergangenen Woche noch ganz intensiv gespürt, als ich in der Mittagspause kurz zum Strand gelaufen bin und zwei Buckelwale vor mir aus dem Meer stießen. Unbeschreiblich.“
Einen Fahrplan für die Zukunft haben die zwei Auswanderer bereits gesponnen: „Wir haben uns ein kleines Grundstück gekauft, dort wollen wir uns ein Haus bauen und endgültig hier Wurzeln schlagen …“